tiefer Blick

 

Blickdicht hüllt der Nebel ein,
was mal war, und manche schreckt,
bettet mit sein tröstend Tropfen,
dunkle Kreuze einsam ein.
Blätterrascheln wird verstummen,
feuchtes Dunkel Ängste nehmen,
vergangenes, es ist bei dir.

Tapfer dringt ein Mondstrahl durch,
sieht glitzernd Tau am Kreuze kleben,
des Nebels treue Tränenwand,
hat sich für immer eingebrannt.
Ein silbrig Licht lässt Freude durch,
helle Nacht wird Trauer nehmen,
vergangenes, es ist vorbei.


 

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 fremdartig

Ich ging mir fremd,

da hab ich mich zum Freund gemacht.


 

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sieben Minuten


 sieben minuten leidenschaft,
kurz und knapp verfasst,
damit das lesen keine leiden schafft.

nehmen wir mal sieben sekunden,
übertrieben wär'n ja stunden,
für ein nettes stell-dich-ein.

ohne pures raus und rein,
reicht ein ausgiebiger kuss,
mit viel gefühl, geschlossenen lidern,
dauerkribbeln in den gliedern,
steigert sich die pochende lust.

die sieben sind so rasch verflogen,
man fühlt sich begehrt betrogen,
nass und heiß zurückgelassen,

ein süßes ziehen in den lenden,
die leiden schafft läßt sich nicht blenden,
aus sekunden werden stunden.


 

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 Sinfonie

               

Er ging im Wald

 spazieren und

 sah eine alte Frau

 am Rand musizieren,

eine Harfe zwischen

ihren Knien,

melancholische Töne

dem Instrument

entflieh’n,

beruhigend die Melodie.

 

Er betrachtet ihr Spiel,

 als ihm eine Begegnung

einfiel.

Es war schon viele

Jahre her,

war es dies Lied?

Ein ahnendes Lächeln

seine Lippen umspielt.

 

Er kann sie nicht wirklich

 benennen,

doch in ihm blitzt das

Erkennen,

sie ist sein Teufel

und sein Engel,

seine Inspiration,

die so oft drängelt.

 

Liebend schaut sie ihn an,

sie hat sein Wandeln

auf Erden begleitet,

nun will sie seinen letzten

Gang mit beschreiten.

Er hört seine Geburtssinfonie

und fühlt eine tiefe Harmonie.

 

 

 

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hörst du?

lass uns reden

 

schriebst du

 

aus der Ferne

 

und tratest auf

 

die Steigbügel

 

 

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 Ein Fall ist los

 

Erinnern Sie mich ja nicht daran, welche Blamage.

Im Frühling war’s, schon lange her, in der
Nähe der polnischen Grenze. Wir saßen in einem zweimotorigen
Flugzeug und flogen beständig in dreitausend Meter Höhe.
Axel war dabei, er hatte Flug- und Höhenangst und 
lamentierte über die Gefahren, die beim Sprung auf uns
lauern könnten. Krampfhaft und durstig hielt er sich an 
seinem Flachmann fest. Eigentlich sollte er seine Ängste besiegen,
leider übertrug er sie auf uns. Skeptisch beäugten wir unsere Ausrüstung. 
Olli meinte plötzlich, er wolle nicht in Polen sterben,
so ließen wir nur die Schirme fallen und flogen nach Smolensk.

 

 

 

(Akrostichon)


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Auf den Punkt gebracht 


Generationen von Männern wachsen in dem Glauben auf, sie müssten den ominösen G-Punkt der Frau finden, um ihr einen alles erfüllenden, utopisch genialen und geilen Orgasmus zu bescheren. Die Suche nach dem G-Punkt kann lebensgefährlich sein. Und wer jetzt denkt, das Gefährlichste sei der Vaginismus (Scheidenkrampf), der irrt gewaltig.
Männer wühlen und fingern sich, mehr oder weniger erfolgreich, durch den Uterus, um den Punkt zu stimulieren. Presse und Fernsehen erörterten das Thema nebst Suchbeschreibung so ausgiebig, bis selbst der Frau suggeriert wurde, sie hätte einen. Ist das so? 

»Ich habe heute gelesen, dass jede Frau einen G-Punkt hat, also will ich ihn finden.«

Besitzt sie tatsächlich einen Punkt den sie nicht kennt? Den sie bisher nie wahrnahm, weil sie ihn noch nicht entdeckte? Es steht schwarz auf weiß vor ihrer Nase. Sie knickt die Ecke der Zeitschrift um. Wenn sie keinen findet, ist sie dann abnormal oder keine richtige Frau? Bisher empfand sie Spaß und Lust am Sex, sogar an neuen Praktiken. Nun zweifelt sie.


»Wieso das denn? Du befriedigst mich voll und ganz.«

»Das höre ich gerne, doch mein erklärtes Ziel ist es, ihn aufzuspüren«, begründet er.


Seine Ziele verfolgt er beharrlich. Ohne Erfolg wäre es widersinnig sich überhaupt Ziele zu setzen. Mit der theoretischen Anleitung in der Hand, positioniert er sich auf der imaginären Startlinie im Flur des Hauses. Seine Suchaktion benötigt Vorbereitungen für die praktische Umsetzung. Achtsam betrachtet er die Zimmer. Treppe? Zu kalt. Couch? Zu schmal. Fußboden? Zu hart. Badewanne? Nee, die Gebrauchsanleitung könnte ins Wasser rutschen. Bett? Ja, das ist gut. Er besorgt sich eine zusätzliche Leselampe, Gleitgel, Vibrator, Q-Tipps und Handtücher, für den Notfall. Perfekt, denkt er zufrieden.

»So, meine Blüte, wir können sofort anfangen. Ich bin bereit.«
»Und wenn ich keinen habe?«
»Papperlapapp, natürlich hast du einen. Du bist doch eine normale Frau. Er liegt halt sehr versteckt, doch das wird ab heute geändert, meine Blüte.«
»Ich bin da etwas skeptisch. Wir könnten meinen Gynäkologen fragen?«
»So weit kommt es noch. Hältst du mich für einen Versager? Du glaubst doch nicht, ich sehe tatenlos zu, wie der Mann meinen Punkt entdeckt und ich als Trottel dastehe? So, lege dich bitte hin und spreize die Beine.«
»Ich finde das jetzt irgendwie doof. Mir fehlt das Küssen und Streicheln. Ich will mit dir schlafen und mich nicht wie ein Berg fühlen, der von dir bestiegen wird, nur um am höchsten Gipfel eine Siegerfahne aufgesteckt zu bekommen.«
»Argh, wieso machst du es so kompliziert? Sehe es doch mal anders. Ich bin Christoph Kolumbus, der neues Land bereist und du bist der Ozean, der mich hinführt. Wir können später noch Zärtlichkeiten austauschen. Wenn ich weiß, wo dein Punkt ist, kann ich ihn gezielt stimulieren. Also entspann dich, meine Blüte, ich mach den Rest.«

Entspannen? Selbstredend entspannt die Frau sich, wenn sie seziert wird. Was macht sie, wenn er nicht fündig wird? Er wird enttäuscht sein und sie fühlt sich dann wie ein 'Das'. Geschlechtslos. Keine ganze Frau, eine Frau mit fehlendem Punkt. Er will eine Punkt-Frau und keine ohne-Punkt-Frau.

Gezielt stürzt er sich auf die Vagina und schiebt sachte einen Finger rein. Vorsichtig drückt er seine Umgebung ab, wobei er sie beobachtet. Sein Abenteuer beginnt und er wird nervös. Wenn er so flott vorankommt, kann es nicht lange dauern, bis er fündig wird. Er führt einen zweiten Finger ein, bevor er sich vorantastet. Jederzeit bereit, sich zurückzuziehen, wenn es kritisch wird. Und es ist gerade ziemlich kritisch.

»Du quetscht meine Finger ein, weil du verkrampfst. Lass dich fallen.«
»Wenn ich mich lockere, dann klappen meine Beine zusammen. Willst du das?«
»Aua, verdammt noch mal. Es wäre hilfreich, mit dem Zappeln und Lachen aufzuhören. Du solltest lieber in dich gehen, um zu spüren, ob ich am Punkt bin.«
»Ich fühle nur unangenehmen Druck. Wenn du da weitermachst, dann scheuere ich dir eine.«

Sie spürt nicht wirklich etwas. Lustlos fragt sie sich, ob sie keine richtige Frau sei. Dieser Gedanke quält und verunsichert sie. Hatte sie sich vielleicht belogen, weil sie sich für aufgeschlossen und neugierig hielt? Sagten die Partner, die ihr versicherten, Spaß mit ihr gehabt zu haben, die Wahrheit? Ein beschämendes Gefühl schleicht sich über ihren Rücken zum Gesicht. Am liebsten täte sie sich verkriechen.

Frustriert überprüft er, ob er der Anleitung gefolgt ist. Vielleicht liegt ihr Punkt woanders? Womöglich in versteckten Nischen oder unter Falten verborgen? Nun gut, es spornt seinen Ehrgeiz an. Hindernisse gibt es, um sie zu überwinden, auch, wenn es schwieriger ist als gedacht. Er ist derjenige, der vorm Vulkan steht, bis er ausbricht. Er ist derjenige, der sich in die Tiefen abseilt, um dem Unbekannten ins Auge zu blicken. Dafür würde er noch tiefer als Tief gleiten.

»Okay, ich schiebe die Finger noch ein Stückchen höher.«
»Oh, du hast ihn gefunden wie mir scheint. Mmh, das fühlt sich gut an.«
»Ernsthaft?«
»Ja, wunder, wunderschön. Bleib dort und streichle mich weiter. Ich komme gleich.«

Aufregung macht sich in ihm breit. Seine Brust schwillt vor Stolz an. Er hat es geschafft, jubelt er. Nun weiß er, wo der Punkt ist und er weiß, dass der Punkt ebenfalls weiß, dass er es weiß. Seine Jagd, sein Sprint und Tauchen lohnten sich. Er würde sogar fliegen, um die Herrschaft über den Punkt zu erlangen. Fest steht er auf dem Epizentrum des Bebens. Mutig geht er dem Tornado entgegen, um sich mitreißen zu lassen. Langsam wühlt sich Misstrauen durch seine Brust. Sie ist knochentrocken.

»Da stimmt doch was nicht, meine Blüte. Warte, ich nehme Gleitgel dazu.«

     

Sie spürt, außer Unmut, nichts. Alles überwältigender Orgasmus, fragt sie sich, so ein Bullshit. Momentan wähnt sie sich am südlichsten Punkt des Südpols. Dagegen wäre ein Gletscher heiß. Punkt ist vorbei und begraben.
»Nein, verschwinde mit deinem Zwei-Finger-Suchsystem.« 

 

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Feierabendimpressionen

 

Prüfend blickte ich aus dem schmutzigen Bürofenster. Endlich Feierabend. Ich griff nach meiner Reisetasche und eilte den Flur hinunter bis zur Bürotoilette. Rasch leerte ich die Tasche, schlüpfte in die Regenhose und warf das Cape über die Schultern. Bevor ich den Raum verließ, klammerte ich mich an den Regenschirm und traf meine furchtbare Nicht-Lieblingskollegin. Mit ihren langen Fingernägeln und der Krähennase sah sie wie Freddy Krueger ohne Traum aus. Sie schenkte mir ihr lippenloses Strich-Grinsen. Misstrauisch vermutete ich, sie wolle ein paar verbale Tiefschläge in meine Richtung schießen. Tief einatmend schaute ich nach unten und schlich an ihr vorbei.
»Ey, du alte Trulla, ich wünsch dich etwas fulla, dann häng ich dich am Pfingstspieß auf
und schmier dir deine Bösartigkeit drauf«, murmelte ich, bevor sie was sagen konnte.
Eiligst lief ich den Flur bis zum Ausgang entlang.

Ich musste zum Hauptbahnhof. Meine Beine kannten den Weg im Schlaf, also bewegte ich mich zielsicher und mit gesenktem Kopf weiter. So brauchte ich 'es' nicht zu sehen, das war besser für mich. Immer, wenn ich 'es' erblickte, starrte ich wie hypnotisiert darauf bis ich von den Leuten übel beschimpft wurde. Manche flitzten mir sogar hinterher. Kaum zu glauben, dachte ich beim Betreten des Hauptbahnhofes und wurde fast von einer kratzenden Lautsprecherdurchsage erschlagen.

»Die S 3 Richtung Neugraben verspätet sich um eine viertel Stunde.«

Ist ja typisch, dass ich bei der Ansage das Gefühl bekam, auf die Uhr schauen zu müssen. Da ich grundsätzlich keine Uhr trug, suchte ich nach ihr. Noch bevor meine kleinen Gehirn-Stubentiger mich warnten, entdeckte ich 'es' direkt vor meiner Nase. Am rechten Mundwinkel hing ein Stück Salat, verziert mit einem kleinen Tupfer gelber Soße. Holländische Soße, vermutete ich, wahrscheinlich noch mit Knoblauch- oder Zwiebelstücken vermischt.
So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte einfach nicht woanders hinsehen. Der Esser beobachtete mich, während er den Mund aufriss, um mir ein gequältes Hackstück zu präsentieren, das, umrankt von Tomate und Gurke, von einer Backe zur anderen zermalmt wurde. Etwas Helles, wie durchweichtes Toastbrot, versuchte sich einen Weg vom Gaumenzipfelchen bis zu den Zähnen zu bahnen. Hastig zückte ich den Regenschirm. Der von Knirps war am belastbarsten und verfügte über einen Knopf, den ich nur drücken brauchte, damit er sich automatisch aufspannte. Täglich trainierte ich die Handhabung und war schon extrem aufspannschnell. Entsetzt beäugte ich nochmal das Essverhalten, bevor ich die Mütze über die Haare zog. Ich war bereit auszuweichen, sollte das Salatstückchen versehentlich in meine Richtung katapultiert werden. Mampfend sprach der Esser mich an:
»Es ist immer blöd, wenn die Bahn sich verspätet, nech? Und dann dieser olle Bahnhof, so schmuddelig, laut und grell. Brrr, einfach schrecklich.«
Bei 'nech' sprang ich ungefähr einen halben Meter nach rechts, wobei ich die Hüfte zusätzlich nach rechts drückte. Knapp entkam ich den durchweichten Krümelkanonenschlägen. Bei 'Brrr' half nur noch meine Meisterkombination: Einen Meter nach hinten springen und federnd den Boden berühren, um einen linksseitigen Gazellensprung zu vollbringen. Diese Kür verwirrte auch den pfiffigsten Mampfer.
»Es ist sehr unhöflich von Ihnen, mir nicht zu antworten«, bemerkte er ärgerlich, wobei sich der Salat vom Mundwinkel löste.
Das Stückchen rutschte vom Kinn und hielt sich gerade noch am Hemdkragen fest. Gebannt verfolgte mein Sehvermögen den Salat, der mittlerweile auf mehreren Fingern landete, die einen Burger zerquetschten. Gelbe Soße quoll an den Brotseiten heraus. Der schwere Knoblauch surfte förmlich auf der Soße.
Ein riesiger Klecks rutschte von einem Finger auf den Nächsten, um dann im freien Fall an der Hose und den Schuhen haften zu bleiben. Schweiß trat mir auf die Stirn.
»Was ist los mit Ihnen?«, brüllte er.
Reflexartig spannte ich den Schirm.
Eine Frau, die einen Rollkoffer zog, schob sich zwischen uns durch. Mein Gegenüber fasste ihr auf die Schulter, um ihr behilflich zu sein. Sofort trennten sich die Essensreste von seiner Hand und blieben an der Frau kleben. Die geteilte Mahlzeit wanderte auf Augenhöhe an mir vorüber, wobei ich dem wütenden Blick des Esslegasthenikers begegnete. Er ging einen Schritt auf mich zu. Blitzschnell flüchtete ich in die Bahn, die gerade einfuhr.
»Dass Sie nicht mehr normal sind sieht jeder«, rief er mir hinterher, »wer trägt im Hochsommer sonst einen Regenanzug?«
Die Mitreisenden starrten mich an. Ich klappte den Regenschirm zusammen und suchte einen Sitzplatz, den ich penibel inspizierte, bevor ich mich hinsetzte.

 

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Bittere Träume

 

Erschöpft bringt Kerstin ihre drei -, fünf- und sechsjährigen Kinder ins Bett.
»Träumt was Schönes, ich hab euch lieb«, flüstert sie, wobei sie ihnen übers Haar streicht.
Gewissenhaft putzt sie die Zähne, cremt das Gesicht ein und legt sich aufs Bett. Seit sie sich ernsthaft damit beschäftigt, wie sie ihr Leben neu ausrichten und organisieren soll, fühlt sie sich müde, fast kraftlos. Vor ein paar Monaten ahnte sie, so könne es nicht weitergehen. Ihre Ahnung wuchs zur Gewissheit. Das zu Wissen verursacht ein starkes Angstgefühl und wühlt sie auf. Noch fehlt ihr der Mut zu drastischen Veränderungen, dennoch spürt sie, es wird etwas Richtungweisendes passieren. Viel Zeit wird sie nicht bekommen.
Bald feiern sie den ersten Hochzeitstag. Erinnerungen drängen sich vor ihr inneres Auge. Der Vater der Kinder verließ sie in der dritten Schwangerschaft. Mit ihren Nerven am Ende, traf sie ihren jetzigen Mann beim Einkaufen. Ein stattlicher Mann, sehr groß, sehr kräftig, ein Beschützer-Typ. Ihre Kinder nahm er ganz selbstverständlich an und versorgte sie liebevoll. Sie heirateten ziemlich schnell. Damals dachte sie, es sei die Chance für einen Neuanfang. Warum verschwand ihre Stärke? Wann verlor sie ihr Gefühl für sich?
Mit diesen Gedanken schläft sie ein.

Plötzlicher Lärm reißt sie aus dem Schlaf. Was war das? Ihr Herz pocht ganz schnell und beunruhigend laut. Vorsichtig verlässt sie das Bett. Der Fußboden ist kalt, doch sie verzichtet auf Strümpfe, bevor sie in den Flur schleicht. Polternd versucht ihr betrunkener Mann die Treppe zu erklimmen.
»Alle sind Scheiße! Müssen die mich immer nur provozieren!«, grölt er vor sich hin.
»Pst, die Kinder schlafen«, raunt sie.
Blutunterlaufene Augen starren sie an. Ein Bär von einem Mann, der schwankend die Treppe hocheiert und sich am Gelände festkrallt, um nicht umzukippen. Alkohol- und Körperschweißgestank schwabbeln in ihre Nase. Am liebsten würde sie sich die Nase zuhalten. Ohne viel Radau will sie ihn ins Bett befördern. Hoffend, ihre Kinder mögen weiterschlafen. Sie hasst den Anblick, sie ekelt sich vor den Ausdünstungen und vor ihm. Sobald er ruhiggestellt ist, verbringt sie die Nacht im Wohnzimmer, nimmt sie sich vor. Bei zu viel Alkoholgenuss hält er seine Blase nicht. Vor einigen Monaten pinkelte er sie an. Noch mehr Erniedrigung kam für sie nicht in Frage. Einmal weichte er sogar die Flurtapete ein. Sie wird auch diesmal das Bett nicht beziehen oder mit ihm sprechen. Wozu auch? Es wird sich nichts ändern. Und am Ende trägt sie sowieso an allem die Schuld.
Ächzend schafft er es, die Treppe unbeschadet hinter sich zu lassen. Ihr wäre es egal, wenn er stürzen würde. Auch das erlebte sie schon und rief lediglich den Notarzt. Der Sanitäter erkundigte sich, warum sie das alles mittrüge? Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Den Respekt vor ihrem Mann verlor sie unbewusst. Sie warf ihm seine ausgiebigen Trinkexzesse vor, als sie noch auf Änderungen hoffte. Er behauptete, er hätte seit vielen Jahren alles im Griff und sie würde ihn nerven.
»Mit wem poppst du? Ich weiß alles, streite es nicht ab!«, lallt er.
»Wir können Morgen reden.«
»Bei mir zickst du nur rum. Und ran lässt du mich auch nicht mehr. Seit Monaten schon nicht mehr.«
Ihre Warnglocken läuten. Möglichst rasch möchte sie sich der Situation entziehen. Sie dreht sich um und geht ins Schlafzimmer. Er wankt hinterher und reißt an ihrer der Schulter.
»Du schuldest mir was. Du bist wertlos. Deinetwegen muss ich mich ja schämen. Dumm wie Stroh biste. Dich will eh niemand mehr, frigide Kuh«, schreit er.
Speichel läuft aus seinem Mund. Sein stinkender Atem lässt ihren Magen rebellieren. Sie würgt und unterdrückt den Spuckreflex. Unvorbereitet erkennt sie Hass in seinen Augen. Trotzdem ist sie sehr überrascht, als seine Hände sich um ihren Hals legen und fest zudrücken. Ihre Überraschung weicht einem Lebenswillen, der durch ihren Körper schießt. Befrei dich, schreit ihr Hirn, der ist nicht bei Sinnen, befrei dich! Sie greift nach seinen Handgelenken, um ihre Kehle zu befreien. Sie fühlt ihre Kräfte schwinden, während sie an seinen Fingern zerrt und nach Luft schnappt. Todesangst. Pure Todesangst verleiht Kräfte, die sich niemand zutraut. Letztens las sie einen Bericht darüber, wie Adrenalin im Körper wirkt. Das Adrenalin übernimmt die Herrschaft, stärkt die Muskeln und härtet die Knochen. Gleich wird sie Ohnmächtig. Nochmals reißt sie kräftig an seinen Fingern. Der Druck an ihrer Luftröhre lässt nach, sie schnappt nach Luft. Die ersten Atemzüge tun höllisch weh. Tränen schießen aus ihren Augen, als sie sich bückt. Hastig atmet sie, wobei ihr schwindelig wird und der Mageninhalt in die Speiseröhre rutscht. Wo ist er? Greift er gleich wieder an? Gehetzt schaut sie sich um und entdeckt ihn bäuchlings auf dem Fußboden.
»Mama, hab ich ihn umgebracht?«
»Nein mein Spatz«, krächzt sie entsetzt, »er schläft bestimmt nur.«
»Mama, deine Augen sind herausgekommen.«
Frank weint und zittert mit ihr um die Wette. Seine Hand hält das Plastikschwert nicht mehr. Fest umarmt sie ihren Ältesten.
»Frank, wir müssen Maren und Sybille wecken, dann fahren wir zu Onkel Ralf. Meinst du, du kannst Maren zum Auto tragen? Du warst sehr tapfer. Nicht mehr weinen, wir müssen leise sein.«
»Ja, das schaff ich.«
»Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Ihre Augen brennen immer noch. Vorsichtig nimmt sie den Schlüssel der Schlafzimmertür und taumelt heraus. Sie findet das Schloss nicht, weil ihre Hände stark zittern. Der Schlüssel klappert gegen die Tür und verursacht einen Heidenlärm, findet sie. Tränen fließen über ihre Wangen. Endlich trifft sie das Schloss und dreht den Schlüssel um. Frank steht im Flur, mit der schlafenden Maren im Arm. Sybille reibt sich gähnend die Augen.
»Kommt leise mit. Wir müssen zum Auto«, flüstert sie.
»Mama, dein Hals ist rot und wieso weinst du?«, murmelt Sybille.
»Das geht wieder weg, Kleine, mach dir keine Sorgen. Später rede ich ausführlich mit dir darüber.«
Sie greift nach ihrer Handtasche, schließt das Auto auf und schnallt die Kinder an. Langsam fährt sie die Auffahrt hinunter und lenkt sich in ein neues Leben.

Ein Jahr später trifft sie ihren Mann beim Amtsgericht.
»Wir müssen uns nicht scheiden lassen. An sich verstehen wir uns ja«, verkündet er.
»Nein, nie wieder wirst du mir zu nahe kommen.«
»So schlimm, wie du es darstelltest, kann es gar nicht gewesen sein. Immerhin verzichtetest du auf eine Anzeige. Ich vermute ja, du hast dir das alles eingebildet, da ich keine Erinnerung daran habe.«
»Weißt du, ich habe mir und dir verziehen. Kannst du das auch?«

 

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D(o)uglaubstesnicht

 

»Bärchen, holst du heute die Getränke für meine Feier am Freitag?«
»Ja, Engel, natürlich.«
Wilfried freut sich auf den Einkauf, weil er die Gelegenheit bekommt, für Manuela ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Eigentlich empfindet er es als reine Geldverschwendung.

Ihr Geburtstag im letzten Jahr endete in einem Desaster, erinnert er sich. Das war ihm eine Lehre und er schwor, sich zu bessern. Damals fiel ihr Ehrentag ausgerechnet mit dem EM Finalspiel zusammen. Seinen Fernsehverzicht würdigte sie kein bisschen. Im Gegenteil, sie scheuchte ihn durch Haus und Garten, um unsinnige Arbeiten zu erledigen. Kein Mensch achtete darauf, ob der Rasen gemäht, das Unkraut entfernt oder die Stühle geputzt waren. Gut, sicherlich stand es ihr zu, etwas ungehalten ihm gegenüber zu sein. Er hätte das Geschenk wirklich dekorieren müssen. Doch wer verpackt einen Autowäsche-Gutschein? Niemand, und da schließt er sich jawohl nicht aus. Wortlos knallte sie ihm ihre kleine Hand ins Gesicht und rauschte empört zu ihrer Freundin. Zwei Wochen blieb sie bei Katja, um sie als Schutzschild zu benutzen. 'Wilfriedabwehr' nannte er es im Stillen. Naja, das war einmal. Heute ist er klüger. Sein Telefonat mit Katja war aufschlussreich.
»Katja Wilkens. Hallo.«
»Wilfried hier. Sag mal, Katja, was kann ich Manuela zum Geburtstag schenken?«
»Hm, kaufe ihr was Schönes bei Douglas.«
»Wer ist Douglas?«
»Nicht wer, sondern was ist Douglas? Es ist eine Parfümerie. In der Holzstraße findest du das Geschäft.«
»Ach so, na dann, vielen Dank.«

Zum ersten Mal in seinem Leben betritt er eine Parfümerie. Der Geruch stört ihn ebenso, wie das Licht. Dennoch schaut er sich tapfer um. Erschreckt bemerkt er die fehlenden Gesichtszüge der Verkäuferinnen. Selbst bei genauerem Hinsehen, entdeckt er kein Fältchen. Am liebsten würde er sofort von Dannen ziehen. Hinter ihm postiert sich ein gesichtsloses Wesen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, erkundigt sie sich höflich, mit einem aufgesetzten Lächeln.
Alles hier wirkt künstlich, denkt er. Diese Erkenntnis behindert seine Atmung. Nein, so will er seine Manuela nicht!
»Äh, ich schaue mich mal eben etwas alleine um«, japst er.
Schweiß rinnt ihm die Stirn herunter. Was mach ich nur, fragt er sich hektisch. Die unterschiedlichen, komischen Gerüche benebeln ihn. Blind greift zum ersten Gegenstand, den seine Finger ertasten. Eilig drückt er dem hilfsbereiten Geschöpf irgendwas in die Hand.
»Packen Sie das bitte ein. Es ist ein Geschenk«, raunt er.
»Wie Sie wünschen«, entgegnet sie.
Sie sieht etwas erstaunt aus, findet er. Nein, das kann nicht sein, beruhigt er sich, das bilde ich mir ein. Diese Gesichter bewegen sich nicht. Rasch begleicht er die Rechnung, schnappt sich das Präsent und stürmt ins Freie. Nach ein paar tiefen, hustenden Atemzügen, schwört er sich, so ein Geschäft nie wieder zu betreten.

Drei Tage später küsst Wilfried seine Herzensdame ausgiebig. Widerwillig löst er sich von ihr. Stolz überreicht er sein Geschenk. Manuela erkennt an der Verpackung das Markenzeichen und ist zutiefst gerührt. Genüsslich entblättert sie das Paket. Als sie zwei blaue Herrenbadelatschen in die Höhe hält, entgleiten ihr sämtliche Gesichtszüge. Wilfried fühlt sich an die Verkäuferinnen erinnert.

 

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Yuma

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alt hat Charakter ;-) manchmal zumindest